Textauszug:
"... Ich stelle mir die Stadt manchmal als einen gigantischen Haufen schmutziger Wäsche vor, und eine Waschfrau, die den Berg mit ihren faltigen Händen durchwühlt, versucht vergebens, die Stücke zu sortieren, eine Ordnung zu schaffen, egal welche, sie fallen immer wieder durcheinander. Doch es sind soviele schöne Sachen darunter, die sie dann staunend für ein paar Sekunden an ihre Brust oder ihre Wangen drückt, den Kopf zur Seite gedreht, weil sie den Geruch nicht mehr ertragen kann. Und nicht selten passiert es, dass sie mit ihren flinken und erfahrenen Fingern Wunderdinge aus den Taschen zieht, die jemand dort vergessen hat: goldene Ketten und Ringe, auf das Feinste geschmiedet und mit den seltensten Steinen versehen, die in Farben leuchten, von denen die Frau bisher nichts geahnt hat und die sie in einen Zustand kurzer Bewusstlosigkeit versetzen; Briefe und Postkarten aus uralten Zeiten, mit schönen, fernen Handschriften geschmückt, die noch die gute, hohe Bildung der Vergangenheit zeigen, von der die Waschfrau nur eine stille Sehnsucht übrigbehalten hat, die ihr aus alten europäischen Filmen erwachsen ist; auch silberne Monokel zieht sie manchmal hervor, oder kleine, goldene Schlüssel ohne Schlösser, oder vergilbte Fotografien, auf denen lockige Kinder- oder Frauenköpfe lachen. Und es hört nicht auf.
Beziehungen in Manhattan: Geschichten von Spinnern und Verliebten, Kriminellen und Besessenen, von Einwanderern und Außenseitern, von Schönheit und Anonymität, gekonnt verpackt in einer spannenden und bis zum Ende mysteriösen Erzählung von einer scheinbar virtuellen Menschenjagd.
Rezension:
Ein Europäer - genauer - ein Deutscher namens Richard - noch genauer - ein Journalist mit östlicher Vergangenheit will in der Riesenstadt New York heimisch werden. Er lässt die abendländische Schwernis hinter sich, taucht ein in die brodelnde Stadt seiner Sehnsüchte und Freiheitsträume, wird Dick, der seine Celia liebt und seinem Freund Joey vertrauen kann. So unbeschwert wäre es nun immer weitergegangen, wenn die Geliebte nicht überfahren worden wäre - Unfall oder Mord? Auf der Suche nach dem Mörder und seinem Motiv vervielfältigen sich Dicks Freunde, die er gut gebrauchen kann, denn die Feinde agieren mit satanischen Listen. So weit, so gut. Wer nicht genau hinsieht, mag das Buch für einen spannenden Krimi von der besseren Sorte halten. Beim zweiten Hinsehen ist dem Autor aber doch etwas Besonderes gelungen. Das spezifisch geprägte Leben in der Metropole macht die Konstellation dieses Buches erst möglich. New York hat viele Gesichter und zwingt seine Bewohner dazu, sich diesem Phänomen unterzuordnen. In dem Wettrennen um die Gunst der Stadt lockt sie die Bewohner in ihre Fallen. Können sie sich daraus befreien, so sind sie gestärkt und beschädigt zugleich. Der Dualismus des Lebens wird das bestimmende Merkmal in diesem Buch.
Der Autor Ulrich Becker ist gelernter Amerikaner und wie sein Dick trägt er den Staub Europas noch an den Füßen. Noch ist er gottlob geformt in der abendländischen Erzähltradition, in der Sprachkraft noch etwas gilt. Diese Tugend hat er sich in die Neue Welt hinübergerettet. Mit großer Sicherheit gibt er der Stadt kräftige Farben. Eine Draufsicht, die ihm mühelos gelingt, so dass der Leser dem rauschhaften Panoramablick erliegt. Wir gehen ihm gerne auf den Leim. Dagegen setzt er die bereits verdorrte, ins Obszöne abgleitende Sprache einer Männerrunde, die sich per Computer zum wöchentlichen Chat trifft. Da müssen wir durch. Und so zwingt der Autor auch den Leser an einem der Geheimnisse dieser Stadt teilzuhaben.
Da Dick ein erzgescheiter Junge ist, lässt er es für den Leser nicht dabei bewenden. Er öffnet den Bogen für die Grundfragen des Lebens, nach der Verantwortung, die jeder für sein Dasein trägt. Zwischen dem Drang nach Geld und Anerkennung, der das Leben in New York prägt, hinterfragt Becker die Grenzsituationen, an die wir alle einmal gelangen. So entlässt er uns am Ende nachdenklich, aber um eine gute Geschichte reicher.
Renate Apitz
in: "Kultur News", 01/2003